Home > Politik & Soziales > Kriegstüchtigkeit
Home

Kriegstüchtigkeit - heute wie damals


"Der Krieg braucht einen gesteigerten Zustand des Gefühls, er braucht Enthusiasmus für die eigene Sache und Hass gegen den Gegner. Nun liegt es in der menschlichen Natur, dass sich starke Gefühle nicht ins Unendliche prolongieren lassen, weder in einem einzelnen Individuum noch in einem Volk, und das weiß die militärische Organisation. Sie benötigt darum eine künstliche Aufstachelung, ein ständiges 'Doping' der Erregung, und diesen Aufpeitschungsdienst sollten - mit gutem oder schlechtem Gewissen, ehrlich oder aus fachlicher Routine - die Intellektuellen leisten, die Dichter, die Schriftsteller, die Journalisten. Die hatten die Hasstrommel zu schlagen und schlugen sie kräftig ... Gehorsam dienten sie fast alle ... dem Massenwahn und Massenhass des Kriegs, statt ihn zu bekämpfen.
...
Allmählich wurde es in diesem ersten Kriegsjahr unmöglich, mit irgend jemandem ein vernünftiges Gespräch zu führen. Die Friedlichsten, die Gutmütigsten waren von dem Blutdurst wie betrunken. Freunde, die ich immer als entschiedene Individualisten und sogar als geistige Anarchisten gekannt, hatten sich über Nacht in fanatische Patrioten verwandelt ... Jedes Gespräch endete in dummen Phrasen wie 'Wer nicht hassen kann, der kann auch nicht richtig lieben' oder in groben Verdächtigungen. Kameraden, mit denen ich seit Jahren nie einen Streit gehabt, beschuldigten mich ganz grob, ich sei kein Österreicher mehr; ich solle hinübergehen nach Frankreich oder Belgien. Ja, sie deuteten sogar vorsichtig an, dass man Ansichten wie jene, dass dieser Krieg ein Verbrechen sei, eigentlich zur Kenntnis der Behörden bringen sollte, denn Defätisten seien die schwersten Verbrecher am Vaterland."
Stefan Zweig (1881 - 1942)

Quelle: Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, London 1942
Hier zitiert nach: RotFuchs Nr. 314, April 2024, S. 2.

 

Ist es heute in Deutschland nicht schon wieder genauso?



Last modified: 2024-08-02 Nach oben